Schlangenbrille

Kurzsichtige Schlangen sehen sich, und leider auch dies nur undeutlich, mit dem Problem konfrontiert, ihre Umgebung verschwommen wahrzunehmen. Zwar teilen sie dieses Schicksal mit vielen Menschen, doch diese wissen sich mittels einer Hilfsvorrichtung, der Brille zu helfen. Nun liegt der Gedanke nahe, doch auch diesen armen Tieren eine solche zu verpassen, damit sie mehr von ihrer Umwelt wahrnehmen und zielgerichteter zubeissen können. - Die Idee ist zwar gut, aber wie sollte eine Brille an einem Schlangenkopf befestigt werden? Menschen haben dafür Ohren. Eingläser oder Monokel, wie sie vor allem früher von Herren der oberen Klasse getragen wurden, eignen sich für Schlangen noch viel weniger. Selbst für Menschen war es nicht einfach, diese Dinger mittels der Gesichtshaut und Augenlidmuskulatur in der Blickachse zu halten. So mußten sie durch Kettchen gesichert werden, um z.B. nach einer Mimik, welche "Erstaunen" ausdrückte, kurz vor dem Aufprall auf dem Boden abgefangen werden zu können.

Vielleicht würde es der Lösung des Problems dienlich sein, ein paar Gedanken über die Evolution der Menschenbrille zu verlieren. Ohne darüber nähere Nachforschungen angestellt zu haben könnte ich mir vorstellen, dass zuerst nur das Monokel existierte. Ein findiger Geist verband dann zwei solche mit einem Drahtbügelchen um die Nase zu einem Binokel. Später, als die Ohren entdeckt wurden, hatte man auch zugleich eine weitere Halterungsmöglichkeit gefunden, welche auch schmalnäsigen Menschen das Tragen dieser Binokels ermöglichte. Für diese Evolutionstheorie spricht übrigens die Tatsache, dass z.B. Engländer und Franzosen, ja sogar die Russen für das Wort "Brille" den Plural verwenden, also "the glasses", "les lunettes" oder "Otschki".

All diese Exkurse machen die kurzsichtige Schlange zwar auch nicht glücklicher, aber vielleicht ergäben sich daraus fruchtbare Ansatzpunkte, wie sich eine Brille auch für diese Spezies entwickeln könnte. Ihr kennt sicher den Ausdruck "Schuppen vor den Augen". Da auch Schlangen Schuppen haben, könnten doch aus solchen z.B. eine Schuppenkorrekturlinse entwickelt werden. Das Problem der Haftung wäre, zumindest für Schlangen mit Schuppen vor den Augen, a priori gelöst.

Es bleibt also zu hoffen, dass sich auf diesem Gebiet bald etwas tut. Nicht nur kurzsichtige Schlangen würden von der Entwicklung einer solchen Schlangenbrille profitieren, sondern auch den Weit- und Krummsichtigen wäre gedient, außer vielleicht gerade der einen, die sich selber zu helfen wußte.

M. Mützenberg, April 1995