Meine Erinnerungen

von Marianne Mützenberg-Ludwig, Frick 1997 

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Meine Erinnerungen an meine frühe Jugend und späteren Jahre begleiten mich durch mein Leben. Ich schreibe sie auf, weil es mich schon immer dazu drängte.

Es sind auch so viele Veränderungen geschehen, seit ich auf der Welt bin. Im Jahr 1927, meinem Geburtsjahr, flog Lindbergh zum ersten Mal über den Atlantik. Wer hätte damals gedacht, dass im Jahr 1969 der erste Mensch auf dem Mond landen würde! Dann kamen Fernsehen, Computer, etc. etc., und alles ist heute selbstverständlich.

Nun zu mir. Ich kam am 30. März 1927 in Bern zur Welt, mein Onkel Fritz Ludwig, Frauenarzt und Bruder meines Vaters, half mir dabei. Ich wuchs aber in Burgdorf an der Heimiswilstrasse auf, zusammen mit meinem älteren Bruder Ruedi und der jüngeren Schwester Silvia.

Bevor ich aber über mich erzähle, sollte ich etwas über meine Eltern sagen, sie gehören ja auch zu meinem Leben. Mein Vater wurde 1892 in Burgdorf geboren, er war das zweitjüngste von neun Geschwistern. Seine Mutter starb bei der Geburt des letzten Kindes. Mein Vater wuchs zusammen mit einem gerechten, aber strengen Vater auf, Haushälterinnen und älteren Schwestern, die ihn alle erziehen wollten, Mutterliebe kannte er nicht. Sie wohnten auf dem Gsteig, das „Villenviertel" von Burgdorf, sein Vater war Direktor in einer Textilfabrik.

Meine Mutter, sie kam 1895 in Burgdorf zur Welt, hatte drei Schwestern und zwei Brüder. Im Jahr 1918, Ende des Ersten Weltkrieges, erkrankte die ganze Familie an der schweren Grippe, die damals wütete. Mein Grossvater starb daran, und meine Grossmutter blieb mit sechs Kindern allein. Sie erwarb das Restaurant Post am Bahnhof, sie war eine tüchtige und tapfere Frau. Die vier Töchter mussten im Restaurant mithelfen, und Mama erzählte mir, dass sie oft auf der Treppe in den Keller, um Getränke zu holen, sitzen blieb und weinte. Sie hatte das Gefühl, zu Höherem geboren zu sein! Aber Grossmutter war aufgeschlossen. Ein Sohn wurde Arzt, einer Architekt und Mama, die sehr talentiert war, durfte am Konservatorium Klavierunterricht nehmen.

Unser Haus war zweistöckig, unten die Mechanische Werkstatt und das Büro, oben die Wohnräume, dann der geräumige Estrich mit noch zwei Zimmern. Ein grosser Garten war da, und das Allerschönste für uns, ein Bächlein floss mitten hindurch. Der Bach war aber nicht nur zu unserem Vergnügen da, er wurde tagsüber mit dem Wehr gestaut, um die Turbine anzutreiben, um alle die Maschinen in der Werkstatt in Gang zu bringen. Wie schaute ich da oft fasziniert in das Turbinenhäuschen, um dann jeweils schnell wieder die Türe zu schliessen.

Mama hatte schöne Blumen vorne im Garten, Dahlien, Rosenbäumchen, dann viel Gemüse. Hinter dem Haus befand sich eine Hofstatt mit vielen Apfel- und Birnenbäumen, dort war auch eine grosse Lagerhalle für die fertigen Knetmaschinen für die Bäckereien, die in der Werkstatt hergestellt wurden.

Vorne im Garten neben dem Bach stand eine hohe Tanne. Ruedi verbrachte viele Stunden dort oben, und ich wunderte mich, was er wohl machte. Auf meine Frage sagte er, es sei viel zu gefährlich für mich, hinaufzugehen. Und übrigens gehe es mich nichts an! Natürlich stach mich der „Gwunder", und eines Tages nahm ich allen Mut zusammen, kletterte Ast um Ast hinauf. Und was sah ich zuoberst, ein Bretterverschlag zwischen den Aesten, und schön geschützt seine Lieblingsbücher. Aha, dort las er, ohne von jemandem behelligt zu werden! Von dort aus hat er wohl auch mit der Steinschleuder auf Nachbar Kränger`s Hühner geschossen, die dann jeweils wild gackernd herumflogen. Das hat auch nicht zu gutem nachbarlichem Einvernehmen beigetragen. Und meine Strafe für meinen Einbruch in sein Heiligtum waren Arme und Beine voll klebrigen Harz.

Ueber der Strasse, wo damals fast nur Fuhrwerke von Heimiswil her verkehrten, war ein Waldstück, dort sammelten wir Morcheln. Dann war die nahe Emme, die Flühe, wo wir spazieren gingen und Heidelbeeren pflückten.

Was wären alle diese Jahre ohne Mama gewesen. Für den Haushalt hatte sie stets eine Lehrtochter, die sie beim Kochen anleiten musste, aber es war auch eine Hilfe, im Garten und überall. Heisses Wasser musste zuerst noch auf dem Gasherd gekocht werden. Daneben gab Mama Klavierstunden, und sie nähte alles für uns. Zweimal im Jahr kam Herr Annaheim, ein Vertreter aus Thun, mit Stoffmustern, dann las Mama genüsslich Stoffe aus und bestellte für die nächsten Monate. Sie war sehr geschickt im Nähen, und hatte sie sich ein Kleid genäht, ging sie zur Krönung ihres Werkes in den Hutladen am Rütschelengässli, um den passenden Hut dazu zu kaufen. Manchmal begleitete ich sie dabei, aber oft wurde es mir langweilig bis der passende Hut gefunden war, und ich schlich mich weg.

Hatte Mama einmal Zeit für sich, setzte sie sich an den Flügel und spielte Chopin, Beethoven, Liszt, das war wunderschön.

Ich ging zur Schule. Am schönsten war das alle Jahre stattfindende Jugendfest, die Solennität. Wir fieberten alle darauf hin. Die Mädchen trugen weisse Röcklein, die grösseren Knaben waren im Kadettencorps. Mama nähte Silvia und mir die „Solätte" Kleidli aus weissem Spitzenstoff. Da das Kleid ja nur einmal im Jahr getragen wurde und wir im nächsten Jahr wieder etwas länger waren, war Mama erfinderisch, kaufte genügend Stoff und setzte jedes Jahr wieder ein Volant unten an. Einmal hatten wir drei Volants, dann wurde es oben zu eng. Am Vorabend waren Röcklein, schwarze Lackschuhe, neben dem Bett bereit, die Kränzlein, aus Kornblumen oder Röschen, im Keller mit Wasser bespritzt. Aus lauter Vorfreude konnte ich kaum einschlafen. Dann um sechs Uhr am Morgen läutete die tiefe Glocke, und von unserem Fenster aus sahen wir an der Kirche die schwarz-weissen Fähnchen, das schönste Fest meiner Jugend begann.

Während der Primarschule durfte ich oft zu Grossmutti nach Bern in die Ferien. Grossmutti wurde älter und verkaufte das Restaurant in Burgdorf. Onkel Hans, der Architekt war, baute Häuser in Bern und legte das Geld für Grossmutti an. Sie hatte ein ungesorgtes Alter. Ich liebte Grossmutti sehr, sie wohnte zusammen mit Tante Hedy, der ledigen Schwester meiner Mutter, in einem Häuschen in der Nähe der Friedenskirche. Ich schlief neben Grossmutti in einem grossen weichen Bett. Sie nahm mich mit auf den Märit, und ich half ihr Körbe mit Gemüse heimschleppen.

Dann waren die unvergesslichen Ferien in Troinex bei Genf. Dort war die jüngste Schwester von Mama, Tante Idy, mit Onkel Edmond verheiratet. Onkel Edmond war, im Ersten Weltkrieg in Burgdorf stationiert, häufiger Gast im Restaurant Post, dann entführte er Tante Idy nach Troinex! Die Ferien dort waren so schön, dass ich sie nie vergesse. Das grosse Haus mit dem Turm, alle die Tiere, Schweine, Pferde, Hühner, ein Ententeich; nach dem Heuen durfte ich zuoberst auf dem Heufuder heimfahren. Onkel Edmond hatte auch Reben bis zum Salève, an der Grenze zu Frankreich. Er sprach nur französisch, er war ein liebenswürdiger Onkel. Einmal setzte er Silvia und mich auf ein Pferd, ritt mit uns in das Restaurant im Dorf, band das Pferd an einen Baum und bestellte für uns eine Glace. Ich konnte mir keine schöneren Ferien denken. Zuoberst im Haus wohnte Mémé, die Mutter von Onkel Edmond. Silvia und ich durften abwechslungsweise hinaufgehen, an die Türe klopfen und sagen: „Madame, le dîner est servi!" Es wurde immer viel diskutiert, natürlich auf französisch, mit Edmée und Marcel, den Cousins, und ich musste mir Mühe geben, mit meinem Schulfranzösisch etwas zu verstehen. In der grossen Küche stand ein langer Tisch, dort assen die Knechte und im Herbst die Frauen, die aus dem nahen Frankreich kamen, um Trauben zu lesen. Die zierliche Tante Idy war wohl oft überfordert mit dem ganzen Betrieb.

Die Kriegsjahre kamen. Viele Lebensmittel waren rationiert, jedes Plätzchen im Garten musste angepflanzt werden. Jeden Abend mussten wir die Fenster verdunkeln, niemandem kam es in den Sinn, noch auf die Strasse zu gehen. Dann gab es Fliegeralarm, wir mussten in den Keller und hörten dumpf dröhnende Bomber über uns fliegen. In den letzten Kriegsjahren mussten wir in den Landdienst, um den Bauernfamilien zu helfen, da die Männer ja meist im Militärdienst waren. Zuerst war ich im Lerchenboden nahe Burgdorf. Am Morgen gab es herrlich knusprige Rösti und Kannen mit Milchkaffee, und ich sah mit grossen Augen wie der Knecht mit breiten Ellenbogen auf dem Tisch, den Kopf über der Rösti, ass und den Kaffee schlürfte. Es waren nicht die Tischmanieren, die man uns zu Hause streng beibrachte! Abends hatte ich Blasen an den Händen von der ungewohnten Arbeit. Einmal klemmte Ruedi, der Bauer, ein Paket unter den Gepäckträger meines (eigentlich Papa`s!) Velo und sagte: „Geisch aber grad schnäll dermit hei". Es war ein schönes Stück Schinken.

In Lyssach war ich im Herbst, es wurden Kartoffeln gegraben, und es regnete viel. Dann sass ich in der heimeligen Stube und flickte Körbe voller Socken. Einmal kam Fritz der Knecht auf Urlaub. Beim Fortgehen gab er mir einen Zettel mit seiner Adresse. Das sah die Bäuerin, sah mich streng an und sagte: „Pass nume uf, dä muess de scho Alimänt zahle!" Ich wunderte mich, was er wohl zahlen musste und ich deswegen noch aufpassen sollte. Daheim erzählte ich es Mama, die lachte herzhaft und sagte, er wolle doch nur ein Esspäckli in den Dienst; das erhielt er auch.

Papa erhandelte oder bekam in diesen Jahren von einem Bauern ein Schweinchen. Es vertrug sich aber schlecht mit den Schafen, die wir noch in der Hofstatt hinter dem Haus hatten. Es riss ständig aus, tauchte im Garten auf und frass von Mama‚s Himbeeren. Einmal spazierte es fröhlich grunzend mitten durch die Heimiswilstrasse, dabei hätte es allen Grund gehabt, sich etwas diskreter zu benehmen, Schwarzhandel war strafbar. Davon wusste das herzige rosa Schweinchen eben nichts. Ich weiss nicht, was mit ihm geschehen ist, vielleicht gab es Papa zurück.

Im Handarbeitsunterricht strickten wir feldgrüne Socken für die Soldaten, dann schickten wir sie mit einem Briefchen und etwas Süssem dazu ins „Feld", für alle, die an Weihnachten nicht daheim sein konnten.

Mein letzter Schultag kam. Beschwingt und voller Zukunftsträume ging ich nach Hause, schmiss die Schulmappe in eine Ecke. Aber ich hatte keine Ahnung, was ich lernen wollte. Meine Eltern hatten vorgesorgt, sie schickten mich nach Lausanne, wo ich die Handelsschule besuchen konnte. Ich wohnte bei einer Familie Rossat, deren Tochter Marie-Lise zum Austausch ein Jahr bei uns zur Schule ging. M. und Mme Rossat waren sehr liebenswürdig zu mir. An den Sonntagen fuhren wir oft die Reben hinauf, wo hoch oben ihre Eltern ein Häuschen bewohnten. Die Rebberge, der Genfersee, in der Ferne die Savoyeralpen haben sich mir tief eingeprägt. Trotzdem litt ich unter Heimweh. Manchmal durfte ich übers Wochenende nach Troinex zu den geliebten Tante Idy und Onkel Edmond.

In der Handelsschule gefiel es mir. Ich lernte auf einmal wieder mit mehr Eifer und Freude, vor allem Englisch, Französisch, Maschinenschreiben, Buchhaltung. Mit den neuen Kameradinnen bummelte ich nach der Schule durch die Stadt, oder wir gingen zum See hinunter. Ich hatte einen langen Schulweg, den ich meistens zu Fuss ging, um das Tramgeld zu sparen. So schrieb einmal Mme Rossat nach Hause „Elle a plus de volonté que de la force". Oft hatte ich, was man heute kaum mehr glauben kann, Hunger! Die Luftveränderung, die meisten Lebensmittel waren noch immer rationiert, und Mme Rossat musste auch einteilen. Sie hatten ein kleines Gärtchen mit ein wenig Tomaten. Es war nicht wie daheim, Keller voller Aepfel, Birnen, Eingemachtes, und Mama, die mit viel Phantasie immer etwas zum Naschen hatte. Ich habe alles trotzdem gut überstanden. Nach einem Jahr kehrte ich mit einem Certificat de l`Ecole de Commerce de Lausanne nach Hause.

Daheim, es ist der 8. Mai 1945. Die Glocken läuten, ich sitze im Garten, der Krieg ist vorbei. Mein ganzes Leben werde ich nie vergessen, wie wir in all diesen Jahren in Frieden lebten, sorglos zur Schule gehen konnten, während um unser kleines Land herum so unvorstellbares Leid geschah, von dem wir verschont geblieben sind.

Papa war im Vorstand der Lehrlingskommission. Er brauchte dringend jemand, der ihm die Schreibarbeiten abnahm. Also wurde ich seine „Sekretärin". Es oblag mir, anlässlich der Lehrabschlussprüfungen, die aus dem Amtsbezirk Burgdorf gekommenen Lehrlinge an ihre Verpflegungs- und Schlafstätten einzuteilen. Das Organisieren machte mir Spass. Wer von weither kommt, muss übernachten, der andere braucht nur ein Esscoupon. Den Entwurf musste ich in die Druckerei bringen, danach verschicken. Wenn ich in die verschiedenen Gaststätten im Städtchen die Anmeldungen brachte, bekam ich oft einen Fünfliber oder ein Paar Strümpfe (die damals immerhin 7 Franken kosteten). Daneben machte ich Papa`s Buchhaltung, die schnell erledigt war.

Abends besuchte ich einen Weissnähkurs und Kochkurs. Ich nähte Papa ein weisses Hemd, wohlverstanden mit Kragen nach Mass! Aber kochen mochte ich nicht, das war Mama‚s Domäne.

Ich hatte Zeit genug, las viel und spielte gerne Klavier. Nach einem Jahr dünkte mich, ich hätte zu viel Zeit für mich, ich fühlte mich unausgefüllt. Ich wollte Krankenschwester werden. So trat ich einstweilen in das Spital in Sumiswald ein. Der Alltag war streng, und ich sah auf einmal viel Leid. Bald übertrug man mir die Pflege der Kinder, und noch heute wundere ich mich, wie man mir die Verantwortung gab, Spritzen und Medikamente zu verabreichen. Die Schwestern waren Diakonissinnen, und sie bearbeiteten mich, ihrem Orden beizutreten. Aber ich wollte einmal heiraten und Kinder haben.

Nach einem Jahr voller Eindrücke und Erfahrungen kehrte ich nach Hause zurück. Da rief Onkel Fritz aus Bern an, ein Kollege von ihm suche dringend eine Arztgehilfin. Ich meldete mich und bekam die Stelle. Zuerst musste ich aber noch Kurse für die notwendigen Laboruntersuchungen im Engeriedspital besuchen. So fuhr ich jeden Tag mit dem Zug nach Bern. Ich hatte den Beruf gefunden, der mich erfüllte, ich arbeitete 6 Jahre bei Dr. Mauerhofer. Alles bisher Erlernte konnte ich gebrauchen. Es gab viele Berichte zu schreiben, die er mir direkt in die Schreibmaschine diktierte, oder sie mir mit dem Diktiergerät übergab.

 

Dr. Mauerhofer war Internist und Herzspezialist. Morgens war ich meistens im Engeriedspital und machte EKG, am Nachmittag war Sprechstunde. Dr. Mauerhofer war Arzt nach alter Väter Sitte, nahm sich mit all seinen Patienten viel Zeit, und sie sassen geduldig Stunden im Wartezimmer. Abends um 7 Uhr, wenn ich zum Zug eilte, war das Sprechzimmer meistens noch fast voll. Musste ich im letzten Moment noch einen Urin- oder Bluttest machen, verpasste ich natürlich den Zug, dann kam ich oft um etwa 9 Uhr nach Hause. Von daheim zum Bahnhof (und zurück) musste ich das ganze Städtchen durchqueren, meistens im Laufschritt.

 

Silvia hatte die Handelsschule in Bern absolviert und arbeitete damals im Schweizerischen Roten Kreuz in Bern. So sputeten wir gemeinsam morgens zum Bahnhof und abends zurück. Mittags assen wir zusammen irgendwo etwas, und bei schönem Wetter sassen wir auf der Bundesterrasse und assen Früchte.

 

Papa war wohl ein guter Fach- aber kein geborener Geschäftsmann, was dazu führte, dass der Mechanische Fabrikationsbetrieb in Konkurs ging. Sein Vater hatte ihm die Werkstatt gekauft, ohne lange zu fragen, ob er geeignet dazu war. In dieser Zeit ging auch die Ehe meiner Eltern auseinander. Papa hörte mehr auf seine Geschwister als auf sein Herz. Es war eine traurige Zeit. Trotz seiner Schwächen habe ich Papa geliebt, und Mama hörte ich nie klagen.

 

Meine Arbeit befriedigte mich unverändert, und trotzdem drängte etwas in mir. Ich war noch nie im Ausland, und ich wollte besser Englisch lernen. So sagte ich schweren Herzens Dr. Mauerhofer, ich möchte die Stelle aufgeben. Aber er wollte nichts davon wissen, hatte aber Verständnis für mich und gab mir ein halbes Jahr Urlaub. So fuhr ich unternehmungslustig nach Calais, mit dem Schiff über den Aermelkanal, und in London erwarteten mich Mr. und Mrs. (den Namen weiss ich nicht mehr), bei denen ich wohnen sollte. Als Kennzeichen trug ich ein blaues Beret! In Southborne, an der Südküste, erwarteten mich zwei herzige kleine Kinder, Stephen und Rose Anna. Es wartete aber auch ein Kübel voller Wäsche auf mich, die mangels einer Waschmaschine von Hand gewaschen werden musste. Morgens brachte ich Stephen zur Schule, und am Nachmittag lud ich Rose Anna in den Kinderwagen, nahm Stephen an die Hand, und wir gingen ans nahe Meer. Dort konnten sie im Sand spielen, und ich passte auf sie auf.

 

Madam rauchte viel, so schickte sie mich in den Tabakladen gegenüber, um Zigaretten zu kaufen. Mit den Besitzern, Vater und Sohn Clark, kam ich bald in lebhaftes Gespräch. Hatte ich einmal frei, luden sie mich zu sich nach Hause ein. Mrs. Clark war gelähmt und im Rollstuhl, und ich sah mit Bewunderung, wie sich Mann und Sohn um sie kümmerten. An einem freien Nachmittag spazierte ich mit Robin zum Meer, endlich konnte ich schwimmen, ohne auf die Kinder aufzupassen. Ueberglücklich schwamm ich hinaus, wie herrlich das war! Da sah ich von weitem Robin am Ufer wild gestikulierend, was hat er wohl? Ich schwimme zurück, da sagt er, ob ich denn noch nie etwas von Ebbe und Flut und heimtückischen Strömungen gehört habe. Da wurde mir erst bewusst, dass das Meer eben kein Schweizer See ist.

 

Hatte ich einmal einen freien Tag, unternahm ich ausgedehnte Busfahrten durch die wunderschöne Landschaft.

 

Mr. und Mrs. wollten Verwandte im Norden besuchen, und zu meiner Unterstützung kam eine Freundin der Familie ins Haus. Der abgemachte Termin bei Dr. Mauerhofer rückte immer näher, und von beiden noch keine Spur. Ich habe sie nicht mehr gesehen, so wenig wie den Lohn, den sie mir noch schuldeten. Ich liess die Kinder in der Obhut der Freundin zurück. Robin brachte mich mit dem Auto nach London, zeigte mir noch die Stadt, dann kam nur noch das Flugzeug in Frage. Das Geld dazu musste er mir borgen (ich schickte es mit meinem ersten Lohn daheim zurück!) So flog ich zum ersten Mal in meinem Leben. In Zürich holte mich Silvia ab, und sie musste mir auch gleich das Geld für den Zug nach Hause leihen.

 

Inzwischen hatte Mama ein neues Zuhause gefunden. Eine Schulfreundin von ihr besass ein Haus in der Nähe beim Bahnhof, und die Parterrewohnung wurde frei. Es war auch ein kleiner Garten vorhanden, was unser Hund Boby schätzte, und Silvia und ich hatten nun einen kurzen Weg zum Bahnhof. Ruedi hatte sein Studium am Technikum beendet und trat seine erste Stelle in Liestal an.

Tante Trudi, wie wir sie nannten, war ledig, und wir hatten sie sehr gerne. An einem freien Nachmittag wollte ich einkaufen gehen, traf Tante Trudi und fragte sie, ob sie auch etwas brauche. Ja, sagte sie, bringe mir Mäusegift von der Drogerie. Als ich bei ihr anklopfte, sass auf der Ofenbank ein junger Mann in einem schwarzen Sportpullover. Tante Trudi stellte ihn mir als Herrn Mützenberg vor, Student am Technikum, und er wohne bei ihr in einem Zimmer. Er gab mir die Hand, dann musterte er mich mit seinen warmen braunen Augen von oben bis unten. Von da an hielt ich immer Ausschau, ob ich ihn wohl sehen würde. Eines Tages läutete es an der Tür, er stand draussen und lud mich zu einem Tanzabend bei seiner Studentenverbindung ein. Um es kurz zu sagen, ich war verliebt! Wir gingen spazieren, über die Flühe, der Emme entlang. Ich war vorher schon oft verliebt, aber es war stets wie ein Strohfeuer, schnell entbrannt und schnell erloschen. Diesmal, sagte mir mein Gefühl, ist es anders.

Eines Abends, ich komme heim von Bern, steht ein Motorrad in der Einfahrt, mit Kennzeichen GB. Und wer sitzt in der Stube, Robin. Mama, gastfreundlich wie immer, gab ihm ein Zimmer im Estrich. Er habe, sagte sie, im Städtchen herum meine Photo gezeigt und nach einer Miss Ludwig gefragt. Ich befand mich in einer äusserst heiklen Situation. Einerseits konnte ich ihn nicht einfach links liegen lassen, und anderseits musste ich unbedingt vermeiden, dass mich Hämi (er hiess Abraham mit Vornamen) mit dem Engländer zusammen sah. Ich zerbrach mir den Kopf, dann kam mir Silvia in den Sinn, sie würde mir schon aus der Patsche helfen. Sie sollte mit ihm auf dem Töff über ein paar Pässe fahren und ihm etwas von der Schweiz zeigen. Sie tat es, und ich bin ihr noch heute dankbar. Sie sagte mir zwar später, wie sie Aengste ausgestanden habe hinten auf dem Töff. Robin kehrte unverrichteter Dinge nach England zurück, und mich plagte nachher lange mein Gewissen, dass ich diesen lieben Menschen abgewiesen hatte. Aber ich liebte eben einen anderen.

Onkel Hans baute Reihenhäuser an der Muristrasse in Bern. Das Erbe von Grossmutti investierte er in das Mehrfamilienhaus an der Muristrasse 88. Grossmutti und Tante Hedy lebten dort in einer bequemen Wohnung. Grossmutti konnte daheim in ihrem grossen Bett sterben, bis zuletzt umsorgt von Tante Hedy.

Mama mochte nicht länger in Burgdorf bleiben, so bezogen wir, Mama, Silvia und ich, eine Wohnung an der Muristrasse 88. Die langen Zugfahrten für Silvia und mich waren vorbei.

Hämi hatte inzwischen sein Studium abgeschlossen, fand eine erste Stelle in Ems, Graubünden, und nach einem Jahr wechselte er zur Chemiefabrik Geigy in Basel.

Wir wollten heiraten. Es war auch Zeit, dass ich mich in Spiez zeigte, wo seine Eltern wohnten und wo er aufgewachsen war. Ich kam in ein schönes grosses Haus, inmitten von Reben gelegen, mit wunderbarem Blick auf den Niesen und die Schneeberge. Sein Vater war Architekt und die Mutter Kunstmalerin. Sie verstand es, die Schönheit der Blumen ihres Gartens auf die Leinwand zu bannen. Aber ich wurde nicht gerade mit Pauken und Trompeten empfangen! Der Sohn hatte eben fertig studiert, und nun wollte er schon heiraten. Aber mit der Zeit schickten sich seine Eltern ins Unvermeidbare, sie bemerkten wohl auch, dass ihr Sohn nicht eben unglücklich war.

In der Praxis Dr. Mauerhofer führte ich meine Nachfolgerin in alle Arbeiten ein, dann nahm ich etwas wehmütig Abschied von meinem langjährigen gütigen, oft gestressten Chef. Aber ich freute mich auf meinen neuen Lebensabschnitt.

24. April 1954. Nach langen kalten Tagen mit teils Schneegestöber bricht ein strahlender Tag an, unser Hochzeitstag. In Spiez ein tiefblauer Himmel, in der Ferne die frisch verschneiten Berge. Wir werden im historischen Schlosskirchlein getraut, von Pfarrer Werner Fankhauser, der ein Onkel von Hämi ist.

(Heute, wie ich das schreibe, ist der 24. April 1997. Es ist ebenfalls ein strahlender, sonniger Tag. Wir fahren um den Hallwilersee, und wir sind dankbar, dass wir nach 43 Jahren noch immer zusammen sein dürfen).

Nach einem fröhlichen Fest im Hotel des Alpes, mit Verwandten, vielen Onkeln und Tanten, ging es auf Hochzeitsreise mit unserem Simca, den Hämi seinem Vater abgekauft hatte. Wir waren demnach stolze Besitzer eines Autos! Bald einmal bemerkte Hämi ein ungewöhnliches Geräusch am Auto, auch fiel uns auf, dass alle, die uns überholten, fröhlich zu uns winkten. Beim nächsten Halteplatz sahen wir hinten am Auto an einer langen Schnur ein alter Schuh und eine Büchse, dazu die Aufschrift „just married!"

Unsere Reise ging ins Tessin. In Ronco, ob Ascona, fanden wir eine Unterkunft. Aber bald einmal bemerkte mein frisch Vermählter, dass das Geld knapp wurde. Er realisierte, dass er nun für zwei aufkommen musste! So fuhren wir eben zurück nach Spiez, läuteten an der Türe, und die Mutter konnte sich kaum fassen vor Freude. Sie hatte wohl gedacht, dass wir uns für immer verabschiedet hatten.

Natürlich fuhren wir noch nach Bern zu Mama und Silvia. Auf dem Weg nach Basel fing ich zu weinen an, es wurde mir auf einmal schmerzlich bewusst, dass nun unsere jahrelange vertraute Dreisamkeit für immer vorbei war. Hämi ertrug es mit Fassung, nur einmal brummte er, dass er ja auch noch da sei!

In Basel richteten wir unsere 2-Zimmerwohnung gemütlich ein. Nun war ich Hausfrau, und das Kochen begann mir Freude zu machen. Bei meiner ersten Einladung, es gab Reis und Fleischspiessli, kochte ich so viel Reis, dass es dann noch tagelang Resten zu essen gab. (Hämi liebt heute noch immer Reis).

Der kleine Haushalt war schnell erledigt, und die Hektik der letzten Jahre fehlte mir. Ich sah in der Zeitung ein Inserat, dass ein Chirurg für den Nachmittag eine Arztgehilfin brauchte. Ich meldete mich sofort und bekam die Stelle. Meine Tage waren nun ausgefüllt.

Ich wollte Auto fahren lernen. Hämi gab mir die ersten Fahrstunden, dabei fing es zu kriseln an. Er ist Motorfahreroffizier, sie sitzt zum ersten Mal hinter dem Steuer, anstatt auf dem bequemen Beifahrersitz. Dabei hat sie keine Ahnung von dem Innenleben eines Motors, dazu kommen fünf Gänge, und man muss beim Zurückschalten noch jedesmal Zwischengas geben. Aber ich schaffte es. Stolz legte ich meinen Führerschein auf sein Pult, und es dauerte eine Weile, bis er merkte, dass es meiner war. Von da an fuhr ich mit dem Auto zu Dr. Geymüller, und Hämi mit dem Tram ins Büro.

Wir waren glücklich. Aber es ging Hämi wie mir seinerzeit bei Dr. Mauerhofer - er wollte nicht sein Leben am gleichen Arbeitsplatz verbringen, ins Ausland gehen und dort Erfahrungen sammeln. Amerika war sein Ziel, und ich war begeistert.

Er schickte verschiedene Bewerbungsschreiben an Firmen in die USA und hatte zwei Angebote. Drei Monate vor Ablauf der Kündigungsfrist offerierte ihm der Direktor für die Produktion Ausland der Geigy eine Stelle im Werk McIntosh, Alabama. Um unabhängig zu bleiben, wollten wir die Reise selbst finanzieren. Also fingen wir zu planen, und vor allem zu sparen an. Unseren damals noch kleinen Hausrat sandten wir in zwei Ueberseekisten direkt nach McIntosh.

Im April 1956, nach einem allseits gefassten Abschied (sie kommen ja bald wieder!) ging die Reise über Paris, dann durch die wunderschön blühende Landschaft nach Le Havre. Dort schifften wir uns in der Liberté ein. Auf Deck sahen wir, wie der grosse Dampfer langsam aus dem Hafen fuhr. Niemand winkte uns nach, und es war uns auf einmal etwas traurig zu Mute. Wir bezogen eine kleine Kabine mit einem Bullauge knapp über der Wasserlinie. Dafür entschädigte uns das feine französische Essen, das wir nach den letzten Strapazen sehr genossen. Die Tage verbrachten wir zum grossen Teil auf Deck mit Tischtennisspielen, wovon ich nie genug bekam. Einmal schlug ich den Kapitän (vielleicht war es nur der 1. Offizier!)

Nach sieben Tagen wurden auf einmal die Motoren langsamer, was wir in unserer Kabine gut zu hören bekamen. Wir eilten auf Deck, da sahen wir von weitem die Wolkenkratzer von Manhattan und die Freiheitsstatue.

Die Einwanderungskontrolle durch die Emigrationsbehörden zog sich in die Länge, weil wir in zwei Koffern Objekte mit Leuchtziffern mitführten, ein Wecker und ein Kompass. Diese brachten die Geiger Zähler wüst zum Pfeifen! Wir mussten in einem Gitterkäfig warten, bis die Koffern gründlich durchwühlt waren, danach erteilte uns der Kontrolleur den Freipass.

Endlich fuhren wir per Taxi ins Geigy Büro, wo wir freundlich empfangen wurden. Wir übernahmen das Auto von Charly Brogli, einem Arbeitskollgen aus Basel, der in die Schweiz zurückkehrte, und zum Austausch bekam er unseren Simca. Wir waren nun Besitzer eines grossen Hudson Ambassador, mit einem noch grösseren Benzin- und Oelverbrauch, was Hämi bei jeder Tankstelle mit Schrecken feststellte. In dem geräumigen Wagen ging die Reise Richtung Süden, und wir staunten über die Weite der Landschaft. Der erste Halt war Washington, dort trafen wir einen Chemiker der Firma Geigy, der uns zu einem feudalen Nachtessen einlud. Ueber die Smoky Mountains kamen wir immer weiter nach Süden, und es wurde immer heisser. Wir packten unsere Sommerkleider aus dem Koffer. Da erblickten wir auf einmal eine Tafel am Strassenrand „Welcome to Alabama, you all come". Bald waren wir in Jackson, wo wir wohnen wollten. Nachdem wir einige Zeit bei einem Schweizer Ehepaar untergebracht waren, fanden wir ein kleines Haus zum Mieten. Als ich die Küche betrat, glaubte ich nicht recht zu sehen, so einen grossen Kühlschrank hatte ich noch nie gesehen.

Wir lebten uns schnell ins neue Leben ein. Hämi fuhr mit zwei Schweizern und drei Amerikanern ins 40 km gelegene McIntosh (es wurde abwechslungsweise gefahren), und ich begann das Häuschen gemütlich einzurichten.

Auf der ganzen Reise war mir immer übel gewesen, nun wurde es zur Gewissheit, wir sollten auf Weihnachten ein Kindlein bekommen. Wie freute ich mich! Aber es sollte nicht sein. Ich musste ins kleine Spital in Jackson, wo ich das sehnlich Erwartete verlor. Im Zimmer neben mir lag eine Frau mit dem gleichen Schicksal, die ganze Familie war um sie versammelt um sie zu trösten. Da zog ich die Decke über mich und weinte bitterlich.

Wieder daheim begann ich mit Eifer zu nähen, zum Glück hatte ich meine Bernina mitgenommen. Ich kam mir vor wie einst Mama! Ausser einmal in der Woche hatte ich das Auto zur Verfügung, so fuhr ich manchmal ins etwa 100 km gelegene Mobile, dort kaufte ich Stoffe und Muster. Ich nähte mir Kleider, Hämi bekam einen Morgenrock und Bademantel.

Wir waren auch oft eingeladen, das Vorurteil, dass die Amerikaner meist Büchsen öffnen, da wurden wir bald eines Besseren belehrt. Da gab es wunderbare Aufläufe, Desserts, und alles selber gemacht. Auch hatte ich liebe Nachbarinnen, die mich oft spontan zu einem Kaffee einluden.

Natürlich wollten wir uns auch zum Essen revanchieren, und auf unsere Frage, was sie für eine Spezialität aus der Schweiz wünschten, kam jedesmal: cheese Fondue! Also mussten wir uns etwas einfallen lassen. In Mobile fanden wir im Hafenquartier einen Griechen, der in seinem Laden viel Importiertes führte, so auch Schweizerkäse. Das hatten wir nun, und das knusprige Pariserbrot? Es gab nur weisses Toastbrot. So fing ich an, Brot zu backen, und es duftete dann jeweils wunderbar durchs ganze Häuschen.

Das Clarke county, in welchem wir wohnten, war „dry county", d.h. es gab keine Verkaufsstelle für alkoholische Getränke. Citronelle oder Mobile waren die nächsten Orte, um den Wein zu kaufen. Das Fondue Caquelon hatten wir im Hausrat mitgenommen, so waren wir nun ausgerüstet.

Ich schrieb viel und ausführlich nach Hause, über unser neues Leben und den Alltag. Dabei erwähnte ich wohl auch einmal das komplizierte Zusammenbringen der Fondue Zutaten. Da kommt doch eines Tages ein grosses Paket aus der Schweiz (die Post holte ich im Post office ab). Und was packe ich aus? Schön in einer noch schöneren bemalten Leinwand eingewickelt eine Flasche Spiezerkirsch, für unsere amerikanischen Gäste zum Fondue!

Die erste Weihnacht in der Fremde nahte. Hämis Mutter schickte uns Kerzenhalter und Kerzen. In Amerika brennen die elektrischen Kerzen am Baum den ganzen Dezember jeden Abend vor dem Fenster. Wir blieben unserer Tradition treu und zündeten die Kerzen erst am 24. Dezember an, was ein äusserst riskantes Unterfangen war, wie wir bald feststellten! Der Baum war dürr, der Wasserkessel bereit, und unsere kleine Katze, die zu uns kam, liebäugelte mit dem Baum und war sprungbereit! Ich hatte den Tisch für uns zwei schön gedeckt, dann kamen alle Nachbarn um unseren Baum zu bestaunen!

Inzwischen hatte ich mich mehr oder weniger an das heisse Klima gewöhnt und ich war wieder in Erwartung. Am 4. Oktober 1958, an einem Samstag morgens um genau 10 Uhr kam Martin zur Welt, ein hübsches gesundes Büblein. Meine Befürchtung, er könnte im Spital verwechselt werden, (ich hatte eben eine solche wahre Geschichte gelesen), erwies sich als unbegründet. Um ihn herum schliefen und krähten alles kleine Negerlein! Dazu sagten meine Besucher jedesmal: oh, he looks like his Daddy! Hämi verteilte im Geschäft, wie es Brauch war, stolz Cigarren mit der Aufschrift: it's a boy!

Wir zügelten in ein grösseres Haus, hinten im Garten spendeten grosse alte Pecan Bäume Schatten. Auch hatten wir wieder liebe Nachbarn. Martin schlief in einem geräumigen Zimmer, Fliegengitter waren überall. Die Idylle war nicht von Dauer, der Besitzer des Hauses wollte es verkaufen, und wir erhielten natürlich das erste Kaufangebot. Aber um es zu kaufen, war das Haus zu alt, um Geld hineinzustecken. Nebst dem war es voller cockroaches, grausige schwarze Biester, die aus allen Ritzen hervorkamen. Ein Bekannter riet uns, baut doch euer eigenes Haus. Kurz entschlossen bestellten wir unser neues Haus bei einem Generalunternehmer. Nach etwa sechs Monaten konnten wir schon einziehen, in ein Haus, wie es in den Südstaaten typisch ist.

Bald waren wir eingerichtet in dem kellerlosen einstöckigen Haus mit vier Zimmern. Um den Garten einigermassen zu gestalten, brauchte Hämi Hilfe. So ging er jeweils am Samstag „downtown", dort sassen die Neger untätig herum, und für einen guten Stundenlohn hatte er bald eine Hilfe.

Irgendeinmal lasen wir ein Inserat, junge Dackel zu verkaufen. Hämi bekam als Bub von seinem Götti einen Dackel geschenkt, der nur ein kurzes Leben hatte, er sprach viel von seinem eigenen Tier. Wir fuhren in die Nähe von Mobile, nur um zu schauen. Natürlich kehrten wir mit einem braunen Dackel heim, und Bella teilte unser Leben während den nächsten 15 Jahren. Er hütete Martin wie sein eigenes Kind, liess niemand Fremdes in seine Nähe.

Im Frühling 1959 erhielten wir einen teils Geschäfts- und privaten Urlaub in die Schweiz, diesmal von der Firma bezahlt! So flogen wir mit Martin erstmals in die Schweiz. In der Kirche in Spiez fand die Taufe statt, im Beisein von allen unseren Lieben. Der Abschied fiel uns, vor allem mir nicht sehr leicht, aber wir freuten uns, wieder bei uns daheim zu sein.

Nach zwei Jahren kam wieder ein glücklicher Tag, d.h. es war Nacht. Am 6. November 1960 Sonntag nachts um 2 Uhr kam Stefan zur Welt, wieder ein gesunder kräftiger Bub. Ich hatte nun meine Kinder, die ich mir immer gewünscht hatte.

Hinter dem Haus entstand ein Sitz- und Spielplatz, mit einem luxuriösen Sandkasten samt Dach und elektrischer Lampe, weil es in diesem Breitengrad im Sommer früh und sehr schnell dunkel wird. Natürlich fehlte das Plastikbad den langen heissen Sommer hindurch nicht. Ein Grill weiter unten im Wäldchen wurde ebenfalls gebaut, alles natürlich von Hämi.

An den Sonntagen fuhren wir durch die nahe Landschaft, durch weite Wälder, die mit spanish moos behangenen alten Eichenbäume, zum Alabama- und Tombigbeeriver, die rote Erde, alles war uns bald vertraut.

Die Ferien verbrachten wir immer im gleichen Cottage in Gulf Shores, am Golf von Mexiko. Das Häuschen lag direkt am wunderschönen Sandstrand, einige Meter vom Meer entfernt. Die Buben spielten im Sand und plantschten in einem angeschwemmten Meerwassertümpel. Bella scharrte vergnügt ein Loch und spritzte mir den Sand auf meine eingeölten Arme und Beine. Es waren herrliche Ferien für alle.

Ich kann das Kapitel Jackson nicht abschliessen, ohne Chippi zu erwähnen. Chippi, die rundliche, gütige Negerin, die uns die Kinder hütete, wenn wir weg waren, und mir bei Bedarf im Haushalt half. Sie liebte die Buben, und es war gegenseitig.

Wir hatten auch einige Besucher aus der Schweiz, und wer kam zuletzt? Mama! Sie, die nie zuvor im Ausland war, wagte den weiten Sprung zu uns. Ich sah mit Bewunderung, wie sie sich unseren Lebensgewohnheiten und dem heissen Klima anpasste, ohne jemals zu klagen. Sie kam sogar mit uns auf unser Motorboot, das wir uns angeschafft hatten, liess sich eine Schwimmweste anziehen und fuhr mit uns auf dem Tombigbeeriver! Während sie auf die Buben aufpasste, übten Hämi und ich uns im Wasserskifahren.

Martin ging in den Kindergarten, zusammen mit Mimi Mudd, dem Nachbarsmädchen. Bald sollte er zur Schule gehen, und wir überlegten uns, bleiben wir oder kehren wir in die Schweiz zurück. Wir entschieden uns für das zweite. Bald prangte ein Schild vor unserem Haus: For sale! Hämi malte noch gründlich die Fassade des Hauses, um es etwas attraktiver zu präsentieren. Es wurde von einem Maler gekauft!

Am Abreisetag kam ein Lastwagen, flinke Männer verpackten Geschirr und Gläser fachmännisch in Kisten, die Möbel wurden weggetragen, bald war alles leer. Beim Wegfahren aus Jackson, das uns fast acht Jahre Heimat war, sah ich noch Chippi, ich winkte ihr lange nach.

So ging die Reise los, die Buben trugen neue braune Wollmäntelchen mit passenden Mützen für den kalten Winter daheim. Bella hockte in einer Kiste, die Hämi gezimmert hatte, in der sie den Flug verbringen musste. Am 23. Dezember 1963 landeten wir in Kloten. Ich wohnte erst einmal mit Kindern und Hund in Spiez, wo genug Platz für uns war. Hämi begann seine Arbeit in Basel und war auf der Suche nach einer Wohnung, das war nicht einfach! Alle waren wir uns «freien Auslauf» gewohnt und konnten uns ein Leben in einer Stadtwohnung nicht vorstellen. Aber wir hatten Glück. Hämi fand ein Reihenhaus zum mieten in Riehen, mit einem Gärtchen und in Waldnähe. Die Buben gewöhnten sich auch schnell daran, dass sie mit den Kindern auf der Strasse nicht mehr englisch sprechen konnten, obschon das Baseldeutsch auch so etwas wie eine Fremdsprache für sie war.

Hämi kam abends stets pünktlich nach Hause, was kein gutes Zeichen war. Eines Tages sagte er zu mir: «Wenn du wieder nach Amerika gehen möchtest, ich komme sofort.» Ich hatte schon lange gemerkt, dass ihm die Arbeit in Basel nicht mehr das bedeutete wie in Amerika, und das steife Getue war auch nicht nach seinem Geschmack. Es war eben nicht mehr Mc Intosh, Alabama. Doch diesmal war ich nicht mehr begeistert! Die Buben gingen zur Schule, die Eltern wurden älter, Ruedi und Silvia waren verheiratet und ich verstand mich gut mit Annali und Alberto und hatte beide gern. Und nun wieder alles verlassen?

Bald wurde Hämi zum technischen Direktor Geigy vorgeladen. Er stellte ihn vor die Wahl, eine neue Stelle in Amerika zu übernehmen, oder den Posten des Werkingenieurs für das zum Bau beschlossene neue Werk Kaisten zu übernehmen. Er meinte, das sei das Angebot seines Lebens und entschloss sich für Kaisten. Im Lauf der Jahre wurde er Vizedirektor, was seine Eltern noch erlebten und mit Stolz erfüllte.

Wir fanden in Frick am Sonnenhang Bauland und planten unser Haus. Nach fünf Jahren in Riehen zogen wir ein, und Bella war noch immer mit dabei.

Mama, die nicht mehr allein in Bern wohnen und haushalten konnte, verbrachte ihre letzten fünf Jahre bei uns. Unsere Söhne studierten und zogen nacheinander aus.

Für Hämi und mich wurde Frick das bleibende Daheim.

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